Diese Fallstudie erschien im Paracelsus Magazin Ausgabe 06/23.
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Anamnese
Kerstin war eine ausgezeichnete Schülerin, es fiel ihr leicht zu lernen. Das Gymnasium verließ sie mit Bestnote. Ihre Mutter war immer sehr stolz auf ihre Tochter und sagte: „Du kannst alles, du bist so toll.“ So konnte diese keine gesunde Selbsteinschätzung entwickeln. Heute hat Kerstin einen extrem hohen Anspruch an sich selbst. In ihrem Beruf als Architektin kann sie ihre ausgeprägte Gewissenhaftigkeit und schnelle Auffassungsgabe, v.a. in Bezug auf technische Sachverhalte, ausleben. Hier braucht sie allerdings auch Kreativität und soll etwas aus sich selbst heraus entwickeln. Das verunsichert sie zutiefst. Sobald ein Auftrag kommt, schläft sie nachts schlecht und hat Albträume. Allgemein klagt sie über den Lärm im Großraumbüro, der ihre Konzentration massiv stört. Nach anstrengenden Tagen hat sie das dringende Bedürfnis nach einem Rückzugsort. In der Natur schöpft sie neue Kraft. Privat interessiert sich Kerstin für Spiritualität und Bewusstseinsthemen. Sie widmet sich auch dem Voltigieren, betrachtet es als Leistungssport. Sie gibt Kindern Unterricht und überträgt dabei ihren Anspruch auf Kinder und Pferd. Leistung ist auch hier das Maß aller Dinge.
Kerstin leidet unter Missgunst und Neid, kommt mit sich selbst immer weniger zurecht und lehnt ihre Mutter ab. Zwar ist sie klug und im Denken geschult, doch hat sie keinen Zugang zu ihrer empfindsamen Seite, weshalb sie nicht sehr liebevoll mit sich selbst umgeht. Andauernd vergleicht sie sich mit anderen Menschen, sowohl im beruflichen wie auch im privaten Kontext, und will so sein wie diese. In Summe verleugnet die Klientin ihre Individualität und Identität.
Einsatz tiergestützter Maßnahmen
Ich erkenne bei meiner Klientin eine ausgeprägte Sensibilität, die sie jedoch nicht als solche wahrnimmt. Mein Ziel ist es, Kerstin behutsam mit sich selbst, ihren Gefühlen und ihrer Empfindsamkeit in Berührung zu bringen. Dies gelingt bei (hoch-)sensiblen Menschen oft über einen Umweg, und zwar die meist vor- handene hohe Fähigkeit zur Empathie. Deshalb integriere ich tiergestützte Interventionen in mein Coaching.
Ich wähle für Kerstin unser Mutterschaf, das aktuell mit sehr jungen Zwillingen überfordert ist und diese nicht trinken lassen will. Daher ziehen wir die Lämmchen mit der Flasche auf. Ich bitte Kerstin, diese Aufgabe zu übernehmen und so das Muttertier zu entlasten. Ich möchte sie in Kontakt mit ihren Gefühlen bringen. Sie soll nicht nur die Überforderung des Schafes sehen, sondern auch ihre eigene Not erkennen. Ich begleite sie mit systemischen Fragen, z.B.: „Welches Gefühl löst es bei dir aus, wenn du das siehst?“ Kerstin empfindet tiefes Mitgefühl mit dem überforderten Muttertier. In Folge öffnet sie ihr Herz auch für sich selbst. So ebne ich den Zugang zu ihrer großen Sensibilität.
Vom Leistungsdenken zum Mitgefühl
Des Weiteren möchte ich meine Klientin erfahren lassen, dass es im Leben noch andere Werte als Leistung gibt. Sie spürt im gemeinsamen Umgang mit meinem Pferd, dass ich eine liebevolle Beziehung zu ihm habe. Was sie zunächst nicht versteht, ist, dass ich das Tier nicht reite, sondern nur auf der Koppel lasse oder mit ihm spazieren gehe, obwohl es früher erfolgreich im Reitsport eingesetzt wurde. Für Kerstin sind bislang nur jene Pferde von Wert, die Leistung bringen. Durch den gemeinsamen Kontakt entsteht bei ihr schnell eine tiefe Sehnsucht nach dieser Verbindung, die sie zwischen meinem Pferd und mir erlebt.
Sie eröffnet mir, dass sie mit dem Voltigier-Unterricht aufhören wolle, nur nicht wisse, wie sie das fertigbringen solle. An dieser Stelle setze ich das Konzept Lingva Eterna® ein. Es befasst sich mit der differenzierten Wirkung von Sprache, und soll bewusst machen, wie sich die eigene Sprache auf Denken und Handeln, die Stimmung und die Kommunikation mit anderen auswirkt. Kerstins Gebrauch von Wortschatz und Grammatik lässt auf eine ängstliche Person, geringes Selbstwertgefühl und ausgeprägtes Opferdenken schließen. Ich leite sie an, ihr Denken über die Sprache zu erkennen und ihre innere Haltung weiterzuentwickeln. Nach einer Weile fühlt sie sich in der Lage, im Voltigierverein zu kündigen.
Ausblick
Die Klientin betrachtete ihre schnelle Auffassungsgabe und Gewissenhaftigkeit bisher als normal. Für sie war das „nichts Besonderes“. Im Rahmen des Coachings haben wir ihre Fähigkeiten als Stärken herausgearbeitet und sie zur Expertise gemacht. Auch ihre hohe Empfindsamkeit und vermeintliche Schwäche kann die Klientin mittlerweile anders einordnen und ihre Bedürfnisse besser einschätzen. Heute lebt Kerstin ihren Beruf als Berufung: Sie nimmt nicht mehr jeden Auftrag an, sondern konzentriert sich auf diejenigen, bei denen sie mit ihren Fähigkeiten dazu beitragen kann, dass die Welt eine bessere wird. Sie hat wieder Freude an ihrer Arbeit und ist damit erfolgreich. Auch Pferden widmet sie sich heute auf eine neue, sehr liebevolle Art, und zwar betreut sie ein Pflegepferd, das auf einem Auge blind ist. So findet Kerstin immer mehr in ihre eigene Mitte und ist auf einem guten Weg.
Fazit
Zu mir kommen Menschen, die etwas für ihre persönliche Entwicklung tun wollen. Die einen möchten mehr Selbstbewusstsein aufbauen oder ihr Potenzial entwickeln, andere wollen mit irgendetwas in ihrem Leben abschließen. Vielen ist ihre hohe Sensibilität nicht bewusst. Die Kombination aus psychologischem Fachwissen, tiergestützter Intervention und Achtsamkeit in Bezug auf den Gebrauch von Sprache ist immer wieder enorm hilfreich, um eine hohe Empfindsamkeit behutsam aufzudecken, besondere Stärken zu erkennen und individuelle Lösungswege zu finden.